Mehr Modelle und weniger Autos

Bis Anfang der 1990er Jahre war die Autowelt eine durchaus übersichtliche Angelegenheit. Damals gab es so um die 100 verschiedene Fahrzeugvarianten. Doch dann ging es los. Nicht einmal 25 Jahre später wurden in Deutschland mehr als 3000 Fahrzeugtypen angeboten – verteilt auf verschiedene Modelle, Karosserieformen und Motorisierungen. Viele davon auf der gleichen technischen Basis. Mit immer neuen Derivaten entstanden plötzlich auch ganz neue Segmente. Schuld war der Wettbewerb. Hatte ein Hersteller eine neue Nische besetzt, mussten die anderen nachziehen. Kaum einer wollte ein Marktsegment den Wettbewerbern überlassen. Hinzu kam ein relativ gesättigter Markt. Neue Fahrzeugvarianten sollten neue Kaufanreize bieten. Und sollen es bis heute. Denn an der zunehmenden Diversifizierung hat sich nichts geändert. Doch hat die Vielfalt auch zu mehr Absatz geführt? Oder verkaufen die Hersteller heute vielleicht sogar weniger Fahrzeuge? JATO Dynamics hat sich dazu die Zahlen einmal genauer angesehen.

In den letzten Jahren ist ein Fahrzeugtypus bei den europäischen Herstellern und den Kunden der klare Favorit: Die SUVs oder Sports Utility Vehicles dominieren mittlerweile seit einigen Jahren den Markt. Die hochaufragenden Fahrzeuge mit Geländewagenoptik haben aber nicht nur in Europa, sondern weltweit an Zugkraft gewonnen und machten im vergangenen Jahr rund 45 Prozent der weltweiten Pkw-Verkäufe aus. In Europa entfielen in diesem Jahr bis August ebenfalls 45 Prozent der Gesamtzulassungen auf SUVs. Aber reicht der Boom aus, um die deutlichen Absatzeinbrüche in anderen Segmenten abzufedern?

Der Absatz hat in fast 30 Jahren gerade einmal 11 Prozent zugelegt

Von 2000 bis 2007 lagen die Pkw-Neuzulassungen in Europa bei jährlich 15 bis 16 Millionen Einheiten. Ab 2008 sorgte die Wirtschafts- und Finanzkrise für die erste Delle; der Absatz ging bis 2016 auf durchschnittlich 13,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr zurück. Danach erholte sich der europäische Markt wieder etwas, die Zulassungen lagen zwischen 15,5 und 15,7 Millionen Einheiten. Dann kam Corona. Und zog den Automarkt – nicht nur in Europa – nach unten. Bis heute wurde das Niveau von vor 20 Jahren nicht wieder übertroffen – zwischen 1991 und 2019 ist der Gesamtabsatz nur um elf Prozent gestiegen. Mittlerweile ist Europas Neuwagenmarkt, wie der nordamerikanische und der japanische, relativ gesättigt. Für die Hersteller bedeutet dies, neue Wege zu finden, um die Kosten zu senken oder neue Kunden von anderen Marken zu erobern.

Da jedes Jahr nur eine begrenzte Zahl neuer Kunden hinzukommt, haben die Hersteller neue Segmente geschaffen, um die Aufmerksamkeit ihrer Klientel zu gewinnen. Da kam die SUV-Welle, die in den späten 1990er Jahren von den USA ausging, gerade recht. In hohem Tempo machten die SUVs Boden gut und wurden schnell zur beliebten Alternative zu den traditionellen Schräghecklimousinen, Kombis und Vans, die Europas Straßen jahrzehntelang beherrschten. Die Hersteller konnten mit den SUVs nicht nur ihr Modellangebot erweitern, sondern auch mehr Geld für Fahrzeuge verlangen, die technisch weitgehend identisch mit ihren Fließheck-Pendants sind.

Für SUVs wird freiwillig mehr gezahlt

Und der Erfolg reißt nicht ab: Immer noch sind die Kunden anscheinend bereit, für einen SUV mehr zu bezahlen als für einen Wagen mit klassischer Karosserieform. Für die Hersteller, die in den letzten zehn Jahren Mühe hatten, ihre Ziele zu erreichen, sind die SUVs eine willkommene „Cash Cow“. Allerdings hat der Boom auch seine Kehrseite: Vor allem die höheren CO2-Emissionen sind hier zu nennen. Zudem geht die Beliebtheit der Pseudogeländewagen auf Kosten der traditionellen Segmente. Das üppige Angebot an SUVs hat direkten Einfluss auf das Kundenverhalten, da diese Fahrzeuge meist als sicherer und allgemein attraktiver gelten.

Erstaunlich ist nur, dass sich, obwohl die SUVs die Gewinne der Hersteller sprudeln ließen, sich dies fast gar nicht auf die Gesamtzulassungen auswirken konnte. Die stagnieren nämlich weiter. Im Gegenteil: Der Gesamtabsatz der sieben europäischen Automarken, die SUVs anbieten, ist zwischen 2001 und 2021 sowohl im B- als auch im C-Segment drastisch eingebrochen.

2001* war der Peugeot 206 mit fast 443.000 Einheiten das meistverkaufte Modell im B-Segment in Europa. Es war das einzige Peugeot-Modell in der Kleinwagenklasse. 2016* kam dann der Peugeot 2008 als SUV-Pendant zum 208 auf den Markt – und wurde gleich zum zweitbestverkauften SUV im B-Segment in Europa. Doch in diesem Jahr hat Peugeot von beiden Modellen zusammen bisher nur 287.000 Stück verkauft, das sind zwei Drittel des 206er-Absatzes von 2001. Allerdings ist das kein Einzelfall: Auch andere Hersteller, wie Opel/Vauxhall, Renault oder Ford, kämpfen mit den gleichen Problemen.

Mehr Verkäufe von einem Modell vor 20 Jahren als von sechs Modellen heute

Der gleiche Trend ist auch im C-Segment zu beobachten. 2001* stand der VW Golf mit 466.000 Einheiten an der Spitze des Segments und des gesamten Marktes. Fünf Jahre später gab es den Bestseller dann auch als Großraumlimousine Golf Plus. Und die Zulassungen stiegen auf 474.000 Einheiten. Zwischen 2011 und 2016 konnte das Gesamtvolumen dank des neu eingeführten Tiguan sogar noch weiter gesteigert werden. Doch in diesem Jahr* kommt Volkswagen mit den Derivaten Golf, Golf Sportsvan, Tiguan und Tiguan Allspace gerade einmal auf zusammen 314.300 verkaufte Einheiten. 390.600 sind es, wenn man ID.3 und ID.4 hinzuzählt. Das sitzt: Ein einziges Modell fand im Jahr 2001 also mehr Kunden als sechs Modelle im Jahr 2021. Und es spricht derzeit nicht viel dafür, dass sich dies kurzfristig ändern wird. Aber vielleicht müssten sich die Hersteller auch einfach nur an die 1990er Jahre erinnern, als die Autowelt noch so herrlich überschaubar war.

* Zeitraum Januar-August

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