Stärker heißt nicht automatisch schneller

Freie Fahrt für freie Bürger – mit diesem Slogan wird seit Jahrzehnten gegen ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen argumentiert. Mit Erfolg. Bis heute gibt es hierzulande – einzigartig in Europa – keine generelle Höchstgeschwindigkeit, sondern nur eine empfohlene Richtgeschwindigkeit. Auf 70 Prozent der deutschen Autobahnkilometer darf unbegrenzt gerast werden. Klar, dass bei so viel Strecke ohne Tempolimit auch schnell gefahren wird. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die Motoren der in Deutschland angebotenen Pkw im Durchschnitt immer stärker werden. Und damit auch die Höchstgeschwindigkeit zunimmt – zumindest theoretisch. Aber stimmt das auch, nimmt der durchschnittliche Top Speed tatsächlich zu? Und um wie viel hat die Motorleistung in der jüngeren Vergangenheit zugelegt?
JATO Dynamics hat sich dazu einmal angesehen, wie sich Leistung, Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit zwischen 2020 und 2022 verändert haben. Fest steht: Der Trend zu mehr Antriebspower ist ungebremst. Zwischen Januar 2020 und August 2021 waren die neu zugelassenen Autos durchschnittlich mit etwa 140 kW motorisiert – mit leichten Schwankungen noch oben und unten. Ab September 2021 nahm die Motorpower dann deutlich zu: Es ging rauf auf 145 kW und gleich im nächsten Monat wieder runter auf 140 kW. Das monatliche Auf und Ab wurde danach zum Dauertrend. Zwischenzeitlich fiel der Wert wieder auf den von Anfang 2020 – doch langfristig nahm die Motorisierung zu. Der größte Sprung wurde zwischen Juli 2022 (138 kW) und September 2022 (156 kW) erreicht. Trotz kurzzeitigen Rückgangs endete der zweijährige Beobachtungszeitraum mit einer Durchschnittleistung von 156 kW – eine Zunahme um immerhin 13 Prozent. Aber was war dafür verantwortlich?
E-Cars haben oft mehr Power
Im Januar 2020 lag der Anteil an rein batterieelektrisch angetriebenen Pkw (BEV) und Plug-In-Hybridfahrzeugen (PHEV) jeweils bei unter fünf Prozent aller Neuzulassungen. Bis Ende 2022 hatte sich das signifikant verändert: Mehr als 30 Prozent entfielen da schon auf BEVs und etwa 15 Prozent auf die Plug-In-Hybride. Beide Antriebsvarianten verfügen oft über hohe Leistung.

Vor allem die PHEVs haben zum Verbrenner noch einen Elektromotor an Bord, was die Gesamtleistung im Schnitt steigert. „Mittlerweile lässt sich ein klarer Trend erkennen“, sagt Eric Haase, Vice-Chairman und Managing Director von JATO Dynamics in Deutschland. „Mit der zunehmenden Anzahl an E-Fahrzeugen steigt auch die durchschnittliche Antriebsleistung.“
Aber führt das auch automatisch zu höherem Top Speed? Und wie sieht es mit den Beschleunigungswerten aus? Mehr Motorkraft lässt Fahrzeuge in der Regel auch schneller von 0 auf 100 km/h sprinten. Doch der Spurt auf Landstraßentempo hängt neben dem Luftwiderstand ganz maßgeblich vom Gewicht des Fahrzeugs ab. Je schwerer die Fuhre desto langsamer geht es vorwärts. Und Elektrofahrzeuge sind aufgrund ihrer nicht selten 500 oder 600 Kilogramm schweren Batterien meist deutlich gewichtiger als ihre Pendants mit Verbrennungsmotor. Zudem bringen die sehr populären SUVs wesentlich mehr Kilos auf die Waage als die meisten Fahrzeuge aus anderen Segmenten – erst recht, wenn sie elektrisch angetrieben sind.
Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die durchschnittlichen Beschleunigungswerte auf Tempo 100 von Anfang 2020 bis Ende 2022 trotz zunehmender Motorleistung zwischen 8,4 und 8,8 Sekunden auf annähernd gleichem Niveau bewegten.

Bemerkenswert sind allenfalls die Schwankungen zwischen den einzelnen Monaten. Die gab es bei der durchschnittlichen Höchstgeschwindigkeit so nicht. Doch dafür ist der Trend hier umso eindeutiger. Im Gegensatz zur Erwartung, dass mehr Motorleistung auch mehr Top Speed bedeutet, war hier ein deutlicher Rückgang zu beobachten. 213 Stundenkilometer betrug die durchschnittliche Höchstgeschwindigkeit im Januar 2020. Obwohl es zwischenzeitlich immer wieder den einen oder anderen Monat gab, in dem das Höchsttempo wieder anstieg, ist es über die 24 Monate Beobachtungszeitraum sukzessive zurückgegangen. Ende 2022 lag es bei „nur“ noch 195 km/h.

Tempolimit schont den Akku
Auch hier ist die steigende Anzahl der Elektrofahrzeuge die Ursache. Doch nicht wegen des höheren Gewichts, sondern weil die Hersteller das Höchsttempo abregeln. Das hat zum einen technische Gründe, denn E-Motoren und Batterien werden unter hoher Last sehr schnell heiß. Man kennt das von seinem Handy. Werden viele Funktionen gleichzeitig ausgeführt, wird das Gerät schnell warm. Bei hohen Temperaturen muss die abgerufene Leistung reduziert werden, um die Akkuzellen zu schützen. Damit über einen breiten Bereich des Ladezustands der Batterie eine konstante Höchstgeschwindigkeit möglich ist, kann es also sinnvoll sein, diese auf einen bestimmten Wert zu begrenzen. „Die Diskussionen ums Tempolimit werden deswegen aber wahrscheinlich nicht gleich aufhören“, sagt Haase. „Dazu sind die Geschwindigkeitsbegrenzungen einfach nicht hoch genug.“
Der zweite und wichtigere Grund ist die Reichweite. Hohes Tempo bedeutet hoher Energieverbrauch. Das ist zwar bei allen Antriebsarten so, doch beim derzeit noch dünnen Ladestationsnetz und Ladezeiten, die deutlich länger dauern als der übliche Tankstopp, ist energieeffizientes Fahren mit einem E-Car wesentlich wichtiger als mit einem Diesel oder Benziner. Dass die maximale Höchstgeschwindigkeit in Zukunft wieder zunehmen wird, wenn die Batteriekapazitäten steigen und das Ladestationsnetz dichter wird, ist dennoch eher unwahrscheinlich. Immerhin sorgt eine niedrigere Vmax für geringeren Verschleiß und die Fahrzeuge benötigen zum Beispiel weniger große Bremsanlagen. So lassen sich die Produktions- und Garantiekosten reduzieren. Zudem ist davon auszugehen, dass zukünftig mehr günstigere Fahrzeuge der unteren Segmente auf den Markt kommen werden, die generell über eine geringere maximale Höchstgeschwindigkeit verfügen.
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